Carina
Plath, Westfälischer Kunstverein Münster
Einführungsrede von Dr. Carina Plath zur Ausstellung
Alex Hanimann im Westfälischer Kunstverein Münster am
12.4.2002
deutsch
-seit dem Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit fertigt Alex Hanimann
Zeichnungen
-unter Zeichnungen verstehen wir auch heutzutage noch Bleistift- oder
Tuschezeichnungen, die die individuelle Handschrift des Zeichners tragen
und damit eine letzte Spur der Kreativität verkörpern sollen in einer
mechanisierten und technologisierten Welt, in der kaum noch jemand Briefe
mit der Hand schreibt
-schon an meinem Nebensatz merken sie, wie stark in Frage zu stellen ist,
warum die Zeichnung dieses letzte Residuum von Genialität sein sollte,
wo in allen anderen Medien der Kunst die neuen Technologien Raum gegriffen
haben, wo vor allem seit den 1960er Jahren die maschinelle Fertigung und
Arbeitsteilung auch die Künste erreicht hat
-Alex Hanimann hat dagegen durch einen intensiven Arbeitsprozeß und die
stete Revision seiner Vorgehensweise eine Möglichkeit von Zeichnung gefunden,
die unserer Zeit entspricht
-er definiert Zeichnung in einem erweiterten Kontext, denn er zeichnet
nicht nur eigen- und freihändig, sondern paust, fotokopiert, scannt und
bearbeitet oder erstellt Zeichnungen am Computer
-die Realität wird illusionslos als vermittelte deutlich, wenn er sein
Material aus öffentlichen Medien wie Tageszeitungen, Zeitschriften, Lexika
und Sachbüchern zieht
-die Blätter zeigen trotz ihrer oft mehrfachen Durcharbeitung von Pause
über Kopie zur Montage die Verbindung zur Vorlage, die wir im weitesten
Sinne wieder erkennen
-dabei ist es klar, dass mit einem Originalbegriff hier nicht mehr zu
operieren ist, denn die Vorlage ist zumeist schon ein Foto und das Produkt,
das zeichnerische Blatt leitet sich von diesem ab
-zugleich, und das macht die besondere Spannung von Hanimanns Arbeit aus,
eignet er sich diese Motive an und überführt sie durch Veränderungen,
Überzeichnungen und Vervielfachungen in eine eigenständige Parallelwelt,
die Absurditäten und Realismen vereint
-manchmal muss er nicht viel tun; Bilder von Politikern, Moderatoren oder
auch Tieraufnahmen werden von ihm so ausgewählt, dass eine Wechselwirkung
zwischen Fundmaterial und Bearbeitung eintreten kann: regt die merkwürdige
Anlage einer Figur oder Szene ihre Wahl und Bearbeitung an, wirft umgekehrt
diese Bearbeitung ihren Schatten auf die Vorlage
-Wirklichkeitsfragmente, die wir ohne weiteres erkennen und mit denen
wir uns identifizieren können, werden an Ränder und Brüche geführt, bei
denen wir uns nicht mehr so sicher sein können, was sie eigentlich bezeichnen
-dies liegt zum einen an der perfektionierten Simplizität der Zeichnungen
-sie sind mit einfachen Umrissen, mit hartem Bleistift oder Filzstift
gezeichnet, wirken dadurch flach und plakativ wie Schlagzeilen oder Werbebilder
und legen ein schnelles Erfassen nahe
-Schrift und Bild vereinen sich zu Graphiken, bei denen die Elemente in
einem Ornament oder Bild vereint sind: so wie sich Text in Bild durch
seine graphische Behandlung verwandelt, sind die Figuren oft wie Buchstaben
aufgereiht und lesbar
-zum anderen handelt es sich um ein Spiel um Zeichen und Bezeichnen, um
Vermitteln und Verstehen, um Erkennen und Verkennen
-der Text erläutert nicht das Bild und umgekehrt, sondern beide laufen
aneinander vorbei, ohne logisch zu verbinden zu sein: ein Biertrinker
erhält die Beischrift „Art is not the luck you can get“, die gelb leuchtenden
Lettern der Worte „Sondern auch“ werden zu einem verheißungsvollen, wenn
auch leeren Versprechen
-mit einer Systematik, die systematisch in ihrem Drang ist, etwas durchzuarbeiten
und auf ein vollständiges Erfassen einer Welt zielt bei gleichzeitigem
Eingestehen der Unmöglichkeit dieses Vorhabens, widmet sich Hanimann einem
Werk, das man auch als Atlas oder Enzyklopädie bezeichnen könnte
-es wird durch das Interesse an den Fragen der Wissensbildung und des
Informationszugangs geleitet, das sich in den herangezogenen Media ausbildet,
und daher an bestimmten Motiven wie dem Experiment, dem Spiel, der Versuchsanordnung,
der Dressur oder dem Militär abarbeitet
-all diese Gebiete sind von Regeln und Systemen bestimmt, die jedoch nur
im Kopf eines Strategen perfekt funktionieren
-das Foto der sich verbeugenden japanischen Manager, die den Konkurs einer
Firma ankündigen, ist vielleicht eine der griffigsten Formeln für die
Durchdringung von Systemen: das ökonomische Scheitern der Firma wird mit
dem Ritual der Verbeugung beendet, die ihrerseits eine spezifische Funktion
im gesellschaftlichen System einnimmt
-so ist es nicht nur das Scheitern von Plänen, sondern auch die parallele
Existenz von einer Vielzahl von sich zum Teil widersprechenden Plänen,
die unser heutiges Leben bestimmt
-die Installation hier verweist nicht nur auf diesen Umstand, sondern
bildet ihn selber aus
-die Blätter sind in der Abfolge strukturiert und zu Motiv- oder Themenblöcken
gefasst: Linien, Schlaufen und Knäuel, Tiere, Soldaten, Handelnde Figuren,
Stillstehende Figuren, Dinge, Roboter und Hüpfen und Springen
-in der Aufzählung wird die Uneinheitlichkeit der gewählten Ebenen deutlich
– mit einem Soldaten verbinde ich mehr als mit dem Motiv des Springens
- und dennoch lassen sich spezifische Interessen und Vorgehensweisen erkennen
-neben dem hintergründigen Humor, der oft die Figuren tanzen lässt, oder
sie zu Schiessbudenfiguren zu machen scheint, ist Hanimann vor allem an
den Verschiebungen, Verzerrungen und der Verunsicherung von Gewussten
und scheinbar Erkanntem gelegen
-sehe ich eine Zeichnung mit den Umrissen einer nackten Frau, bezeichne
ich sie mit dem Wort Frau – hat sie in der danebenliegenden Zeichnungen
einen Bastrock an und eine Blumenkette um den Hals, ist sie vielleicht
eher eine Wilde
-diese ständigen Sinnstiftungen und Versuche unsererseits, die Zeichen
zu verbinden, werden durch Leerstellen in Hanimanns Zeichnungen angeregt
und zugleich nicht in eine, sondern in viele mögliche Richtungen geleitet
-das Problem und der Reiz ist, dass dies alles gleichzeitig in dieser
grossen Fläche von Zeichen wie auf einer grossen Mattscheibe passiert
-kann man einzelne Zeichnungen vielleicht noch mit Worten beschreiben,
die zwangsläufig ungenügend bleiben, gewinnen die Zeichen durch die Masse
der Blätter an Komplexität
-Wortblöcke widersprechen sich, Figuren treten in anderen Rollen erneut
auf und das Ganze gerät in ständige Bewegung, die sich nicht anhalten
lässt und in dieser sich beschleunigenden Dynamik paradigmatisch für ein
aktuelles Zeitgefühl wird
-dies wird besonders deutlich, wenn man, wie wir es einem glücklichen
Zufall verdanken, zwei Zeichner aus verschiedenen Zeiten sehen kann
-der künstlerische Ansatz von Hanne Darboven, deren Bücher sie in den
Räumen des Landesmuseums sehen können, gründet in der Konzeptualisierung
des Kunstwerks in den 1970er Jahren
-heute, circa 30 Jahre später, wird deutlich, wie sich das Verständnis
vom System Kunst verändert hat
-entsteht Darbovens Werk aus einem nachvollziehbaren, zeitlichen Ablauf,
dem Schreiben, der sich in der entstandenen Arbeit simultan zeigt, existiert
bei Hanimann nur die Gleichzeitigkeit
-er betitelt seine Werke nicht, noch datiert er sie, wir haben hier eine
simultane Sicht von an die 700 Blättern
-jedoch entscheidender ist die Differenz in der Auffassung des Systematischen
–Darbovens selbst gestellte Aufgaben sind abschliessbar, wenn sie auch
eine unzähligen Menge von Zeichnungen ergeben, und verkörpern letztlich
den willensstarken Überlebensversuch einer Künstlerin, die auch ihre Endlichkeit
thematisiert
-Hanimann ist gewissermaßen bereits untergegangen; der Versuch, die Welt
zu gliedern, findet schon unter der Prämisse des Scheiterns von Erkenntnis
statt
-die Zeichnungen ergeben keinen Sinn, noch nicht einmal für den Zeichner
selber
-seine Enzyklopädie ist nicht auf eine Individualität bezogen und unterliegt
durch die Aufnahme neuer Informationen und Zeichnungen ständiger Relativierung
-der Fortschrittsgedanke, der bei Darboven zumindest noch in der Perspektive
auf die eigene Person existiert, verfängt sich bei Hanimann in einem Kreislauf
-wie die Medien, aus denen sie gezogen sind, verdrehen seine Zeichnungen
Fakten und ebnen Informationen ein – die Bilder eines Gelynchten, diejenigen
von einem stürzendem Pferd mit Reiter in allen schmerzhaften Phasen, Schlagzeilen
wie Atom in Pakistan zeigen die absurde, wenn auch alltägliche Verbindung
von Belanglosigkeit und ernstem Inhalt
-zugleich stehen sie für einen Datenzuwachs ohne Erkenntnisgewinn, der
für unser sogenanntes Informationszeitalter charakteristisch ist: wir
wissen immer mehr, jedoch wissen wir nicht, wie wir diese Kenntnis be-
und verwerten sollen, da wir schon die qualität oder den hintergrund einer
information nicht mehr beurteilen können
-die Ausstellung trägt den Titel „the power of perception and the power
of judgement“, ein Titel, der einen zunächst schaudern lässt in seiner
Direktheit einer Politiker-Platitüde
-und dennoch, neben der täuschend gefälligen überzeugungskraft dieser
phrase, gewinnt das wiederholte wort „power“ im zweiten Teil: „the power
of judgement“ einen doppelsinn, der nicht nur die Kraft oder Macht der
Urteilsfähigkeit im Sinne der Wahrnehmung bezeichnen kann, sondern auch
die des Urteilsspruchs und wo auf einmal die Möglichkeit des Individuums,
sich ein Urteil zu bilden von der zweiten der institutionalisierten Rechtsprechung,
die autoritär verfährt, überlagert wird
-der verweis auf eine solche unschärfe wie hier des wortes „power“ ist
kennzeichnend für hanimanns vorgehen, das im weiteren sinne die Fragen
nach heutigen Handlungsmöglichkeiten stellt
Was ist zu tun, wenn ich kein vollständiges, eindeutiges und authentisches
Bild gewinnen kann?
Wenn sich in einem überbordenden feld von informationen die kausalketten
nicht mehr ziehen lassen, wie kann ich eine Handlung auch nur als die
nächstrichtige beurteilen?
-in Hanimanns Welt, die unsere ist, müssen wir mit dem Dilemma leben.
Paradox ergibt sich aus der eigentlich Handlungsunfähigkeit auch wieder
nur ein Fazit, wie es hier auf einer Zeichnung steht: „Was bleibt: man
begnügt sich mit dem unvermeidlichen – dem Handeln.“
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